Sexueller Kindesmissbrauch durch Priester

Sexueller Kindesmissbrauch durch Priester

Über das Scheitern eines großen Forschungsprojekts

 

Christian Pfeiffer 

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Im Januar 2013 berichteten die Medien über das Scheitern einer großen Untersuchung zum sexuellen Kindesmissbrauch durch Priester. Im Juli 2011 hatten die Deutsche Bischofskonferenz (dbk) und das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) noch stolz verkündet, dass sie sich auf dieses anspruchsvolle Forschungsvorhaben geeinigt hatten. Doch warum ist das Projekt dann 18 Monate später beendet worden?

Die Katholische Kirche sagt, die Vertrauensbasis zu mir und dem KFN sei nicht mehr vorhanden gewesen. Wir betonen stattdessen, die Kirche hätte unzumutbare Vertragsänderungen gewünscht. Nachfolgend soll aus unserer Sicht dargestellt werden, was sich hier tatsächlich abgespielt hat. Alle zitierten Texte sind auf der Homepage des KFN unter www.kfn.de nachlesbar.

Am Anfang stand im Juli 2011 ein von beiden Seiten als fair und vernünftig eingeschätzter Vertrag. Acht Wochen nach der Abgabe des abschließenden Forschungsberichtes an die dbk sollten die Wissenschaftler des Instituts völlig frei sein, ihre wissenschaftlichen Texte zu veröffentlichen. Alle 27 Bistümer hatten dem Vertrag per Handzeichen zugestimmt. Im Einzelnen waren vier verschiedene Untersuchungen geplant:

  • Eine teilweise bis 1945 zurückreichende Aktenanalyse zu den Missbrauchstaten anhand der Personalakten von Tätern des Missbrauchs.
  • Eine schriftliche Befragung sämtlicher Missbrauchsopfer zu ihrer Person, zur Tat und den Tatfolgen sowie dazu, wie die Kirche mit den Opfern umgegangen ist.
  • Auf Tonband aufgezeichnete Tiefeninterviews mit einzelnen Opfern.
  • Auf Tonband aufgezeichnete Tiefeninterviews mit einzelnen Missbrauchstätern.

Gemeinsam mit engagierten Experten der Kirche hatten die Wissenschaftler des KFN ein sehr detailliertes Datenschutzkonzept entwickelt. Dadurch war die Anonymität der Täter, der Opfer und der beteiligten Bistümer sichergestellt.

In den ersten fünf Monaten des Projekts ist das KFN von kirchlicher Seite engagiert unterstützt worden. Dann jedoch zeigten sich vor allem im Erzbistum München und Freising sowie im Bistum Regensburg wachsende Widerstände. Beide wollten nur noch dann an dem Projekt weiter mitwirken, wenn der Kirche in einem neuen Vertrag mehr Kontrollrechte zugestanden werden. Schrittweise gelang es ihnen, auch die anderen Bistümer von diesem Kurs zu überzeugen. Anfang Mai 2012 wurde dem KFN von der dbk ein neuer Vertragsentwurf vorgelegt. Die Kirche beanspruchte darin weitgehende Zensurrechte. Forschungstexte der Wissenschaftler sollten nur noch veröffentlicht werden können, wenn sie von Seiten der Kirche vorher schriftlich genehmigt worden sind.

Natürlich haben wir gegen diese geplante Bevormundung sofort protestiert. Daraufhin schwächte die Kirche in einem weiteren Vertragsentwurf Anfang Juli die Zensurforderung etwas ab. Das Verbot einer Veröffentlichung sollte zulässig sein, wenn „ein wichtiger Grund“ vorliegt. Außerdem beanspruchte die Kirche ein Mitspracherecht bei der Auswahl wissenschaftlicher Mitarbeiter des KFN.

Wir haben beides abgelehnt. Solche Regelungen sind mit der Freiheit wissenschaftlicher Forschung nicht vereinbar. Wissenschaftlern kann nicht zugemutet werden, beim Schreiben ihrer Texte ständig zu überlegen, ob bestimmte Formulierungen den Geldgeber des Projekts möglicherweise so verärgern, dass er deren Veröffentlichung verbietet. Wir haben uns deshalb intensiv darum bemüht, die dbk zu einer Aufgabe ihrer Zensurwünsche zu motivieren. So haben wir ihr angeboten, im Anschluss an jedes Kapitel des Forschungsberichtes ihre eigene Sicht der Forschungsbefunde darzustellen. Aber auch das reichte der dbk nicht. Ende Oktober 2012 habe ich deshalb im Wege eines Rundschreibens bei allen 27 Bistümern direkt angefragt, wer von ihnen denn noch bereit sei, das Projekt zu den vertraglich vereinbarten Bedingungen zu realisieren.

Zu diesem Schritt sahen wir uns noch aus einem anderen Grund veranlasst. Uns war aus Kreisen der Kirche zugetragen worden, dass in verschiedenen Bistümern Akten von Missbrauchsverfahren zehn Jahre nach der Verurteilung oder im Jahr nach dem Tod des Priesters vernichtet worden sind. Dazu sind die Bistümer offenbar kirchenrechtlich verpflichtet (Can. 489 §2 CIC). Zwar sollen sie dann eine kurze Zusammenfassung des Urteils in die Personalakte des betroffenen Priesters aufnehmen. Doch dadurch gehen wertvolle Informationen unwiederbringlich verloren – z. B. darüber, wie der Täter und später die Kirche mit dem Opfer umgegangen sind.

Dies bestätigt die Kurzfassung eines Gutachtens zu den innerkirchlichen Missbrauchstaten in der Erzdiözese München und Freising. Die Münchner Rechtsanwältin Dr. Westpfahl beschreibt darin Ende 2010 als eine Hauptursache für die großen Lücken ihrer Untersuchung: „dass nach den, den Gutachtern vermittelten Erkenntnissen Aktenvernichtungen in erheblichem Umfang stattgefunden haben“. Die Vorschrift des Kirchenrechts steht damit in krassem Widerspruch zu den Aufklärungsinteressen der Opfer, der Öffentlichkeit und der Wissenschaft. Trotzdem hatte die Bischofskonferenz  hierüber weder die Medien, noch das KFN informiert, als sie im Juli 2011 ankündigte, in neun ausgewählten Bistümern alle Missbrauchstaten der Jahre 1945 bis 2010 untersuchen zu lassen.

Auch dieses Problem ist Ende Oktober von mir in meinem Rundschreiben angesprochen worden. Bei allen 27 (Erz-) Bischöfen hatte ich angefragt, ob und in welchem Ausmaß es bei ihnen zu solchen Aktenvernichtungen gekommen sei. Eine Antwort haben wir darauf nicht erhalten. Stattdessen wurde uns mitgeteilt, das Vertrauen in Prof. Pfeiffer und das KFN sei nun so erschüttert, dass nur noch der Weg bleibe, den Vertrag zu kündigen. Dabei wäre hier durchaus ein anderer Weg möglich gewesen. Die dbk hätte doch gegenüber dem KFN einräumen können, dass sie aus Angst vor möglicherweise unangenehmen Forschungsergebnissen auf den falschen Kurs geraten ist, die beim KFN entstehenden Forschungstexte kontrollieren und notfalls sogar verbieten zu wollen. Solche Fehler sind doch durchaus menschlich und geschehen auch außerhalb der Kirche gar nicht so selten. Aber für diesen mutigen Schritt gab es in der dbk offenbar keine Mehrheit.

Anfang Januar 2013 hat die dbk den Vertrag wegen eines bei ihr eingetretenen Vertrauensverlustes gekündigt. Als ich daraufhin öffentlich klarstellte, das Projekt sei an den Kontroll- und Zensurwünschen der Kirche gescheitert, hielten die Repräsentanten der dbk mir entgegen, dass ich hier die Unwahrheit sage. Sie versuchten dann sogar, mir meine Aussage zu den Zensurvorwürfen gerichtlich verbieten zu lassen. Am 14. Januar hat die dbk beim Landgericht Hamburg eine entsprechende einstweilige Verfügung beantragt. Doch mit einem solchen Schritt hatten wir gerechnet. Allen 118 Landgerichten Deutschlands hatte unser Anwalt eine auf unserer Homepage dokumentierte Schutzschrift zugeschickt, die anhand der Vertragsentwürfe die Zensurvorwürfe klar belegt hat. Das Landgericht Hamburg war also gut informiert, als es sich mit dem Antrag der Kirche auseinandersetzte. Was es dem Anwalt der dbk gesagt hat, ist nicht bekannt. Aber das Ergebnis ist eindeutig. Am 17. Januar hat die dbk ihren Antrag zurückgezogen. Sie ist damit vor Gericht gescheitert.

Damit bleibt noch zu klären, was eigentlich diesen Bruch zwischen der Kirche und dem KFN ausgelöst hat. Möglicherweise hat hier ein Vortrag von mir eine gewichtige Rolle gespielt. Vor den Generalvikaren aller 27 Bistümer hatte ich im Herbst 2012 über eine starke Abnahme der Missbrauchstaten amerikanischer Priester berichtet. Sie waren seit den Siebziger Jahren um fast 90 Prozent zurückgegangen. Ich stellte dar, was unsere Kollegen des John Jay College, New York, hierzu ermittelt hatten. Nur bei etwa fünf Prozent der amerikanischen Täter handelte es sich um Priester, die auf Kinder oder pubertierende Jungen und Mädchen fixiert waren. Die große Mehrheit hätte nach Einschätzung der amerikanischen Wissenschaftler als sexuelle Wunschpartner erwachsene Frauen oder auch Männer vorgezogen. Aber das war offenbar in dem extrem prüden Amerika der Sechziger und Siebziger Jahre nicht machbar. Und so haben sich diese Priester dann ersatzweise an Kindern und unter 16-jährigen Jugendlichen vergangen. Doch dann liberalisierte sich in den USA schrittweise die Sexualmoral. Zunehmend konnten sich so auch Priester, die Liebesbeziehungen und sexuelle Kontakte zu erwachsenen Wunschpartnern anstrebten, ihre Wünsche erfüllen. Und je mehr solche Verstöße gegen das Zölibat geschahen, umso weniger hatten diese Priester es nötig, sich ersatzweise an unter 16-Jährigen zu vergreifen.

Als ich in meinem Vortrag darstellte, dass das KFN auch diese Hypothese im Rahmen seiner Forschung untersuchen wollte, wurde an der Reaktion mancher Zuhörer deutlich, dass sie sich hiervon massiv bedroht fühlten. Die von der Katholischen Kirche so heftig bekämpfte Liberalisierung der Sexualmoral sollte auf einmal dazu beigetragen haben, dass es in den USA und wohl auch in Deutschland zu einem starken Rückgang des sexuellen Kindesmissbrauchs durch Priester gekommen ist? Und dann gab es ja da noch eine zweite beunruhigende Forschungsperspektive des KFN. In den USA hatte sich gezeigt, dass vor allem solche Priester Missbrauch begangen hatten, die vorher in eine Krise geraten waren. Alkohol- und Finanzprobleme, menschliche Isolation, Konflikte im sozialen Umfeld, Burnout und Überlastung prägten häufig ihr Leben. Die Frage stellt sich, welche Mitverantwortung hierfür die Bistümer trifft. Haben Sie sich ausreichend um Priester gekümmert, die in solche Notlagen geraten sind? Es war klar, dass wir auch diese Forschungsfrage im Wege der Aktenanalyse und vor allem im Rahmen der geplanten Tiefeninterviews mit Missbrauchstätern untersuchen wollte. Rückblickend gesehen spricht viel dafür, dass auch deshalb der Wunsch nach einer vertraglich abgesicherten Kontrolle der Forschungstexte entstanden ist. Doch an diesen Zensurwünschen ist das Projekt dann gescheitert.

Die Leidtragenden dieses Konflikts sind nun die Opfer des kirchlichen Missbrauchs. Wir bemühen uns deshalb sehr darum, diesen Teil seines Forschungsprojekts zu retten. Wir bitten alle kirchlichen Missbrauchsopfer darum, sich möglichst bald bei uns zu melden, damit wir ihnen einen Fragebogen zuschicken können. Sollten dann eine große Zahl von Opfern den ausgefüllten Fragebogen anonym an das KFN zurücksenden, eröffnet das uns doch noch die Chance, überaus wichtige Forschungserkenntnisse zu erarbeiten. Gestützt auf Forschungsdaten, die es 2011 zu 450 nichtkirchlichen Missbrauchsopfern gewonnen hatte, können wir durch eine Vergleichsanalyse herausarbeiten, welches die Besonderheiten des kirchlichen Missbrauchs sind. Damit würden wir dann doch noch ein wichtiges Ziel des mit der Bischofskonferenz vereinbarten Forschungsprojekts erreichen können: Wir könnten als Sprachrohr der Opfer deren Botschaften in die Öffentlichkeit vermitteln und gestützt auf die Erkenntnisse Vorschläge zur Prävention kirchlicher Missbrauchstaten erarbeiten.

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